Schweifende blicke

Andreas Broeckmann

Über Oliver Whiteheads Video mind's eye

1. Blick aus dem Zugfenster

Sie fahren mit dem Zug durch eine beliebige Vorstadt. Abstellgleise, Rangierterrains, Böschungen und Oberleitungen, die mit Dämmen, Sträuchern und Bäumen vor den Blicken der Stadtbewohner abgeschirmt sind, bieten sich dem Reisenden in nackter Gleichgültigkeit dar. Zweifellos sind diese Strecken ohne jeden Sinn für Ästhetik gebaut. Sie sind einer strengeren Ökonomie unterworfen, die nicht den geringsten Versuch macht, mehr darzustellen als ihre Funktion: es sind technische Anlagen für den Transport von Gütern und Personen, die durch die industriellen Hinterhöfe der Städte führen.

Lange Zeit haben sich menschliche Siedlungen den Verkehrswegen, die zu ihnen führten, zugewandt. Befestigte Kreuzungen, Furten und Flußmündungen wurden zu den zentralen Orten städtischer Zivilisation. Stolz kehrten sich die Häuserfassaden mit ihren Arkaden, Schmuckgiebeln und Fenstern den Verkehrsadern zu. Gleichermaßen wurden Landstraßen in Hinsicht auf die Erfahrung der Landschaft gebaut. Der Sinn für die Ästhetik der Landschaft beim Reisens kulminierte in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Anlage von Autobahnen und Passstraßen als Panoramastrecken.

Im Eisenbahnbau dagegen überwiegt die Ökonomie der Distanzüberwindung gegenüber der Ästhetik des touristischen Blicks. Die Einfahrt in größere Städte mit dem Zug zeigt weder ihre Wahrzeichen, noch will sie einen attraktiven ersten Eindruck vermitteln. Mit den Hochgeschwindigkeitszügen schließlich nähert sich die ästhetische Erfahrung des Zugfahrens zunehmend derjenigen des Fliegens – sie wird zum Tunnelblick, bei dem die Außenwelt durch visuelle Redundanz, Geschwindigkeit und Sicht- und Schallschleusen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Den Blick des Reisenden lenkt man dann mit Videomonitoren in den Rücklehnen der Sitze ab.

2. Minimale Aufmerksamkeit

Oliver Whiteheads Videoarbeit mind's eye (1999) zeigt den Blick aus einem Zug. Eine blasse und identitätslose Vorortlandschaft zieht vorbei. Bei einer Geschwindigkeit von vielleicht 50 km/h lassen sich einzelne Gegenstände einen Moment lang fixieren und verfolgen, dann verschwinden sie am Rande des Blickfeldes. Das Video zeigt in Einzelschnitten eine lange Folge solcher Blicke; in Fahrtrichtung vorausschauend, findet die Kamera ein Objekt, schwenkt gegen die Fahrtrichtung, um es so lange wie möglich zu fixieren, und verliert es dann am rückwärtigen Rand des Fensterrahmens.

Die Kamera sucht die Graffiti, die von Jugendlichen auf Hauswände, Brückenpfeiler, Unterführungen, Wartehäuschen und Verkehrsschilder gesprüht worden sind. Ab und an bleibt der Blick an Menschen haften, die entlang der Bahnstrecke laufen, Spaziergänger, die ihre Hunde ausführen, Leute, die von der Arbeit, vom Einkaufen, vielleicht von der nächsten Bahnhaltestelle kommen. Ein drittes wiederkehrendes Motiv sind Antennen und Satellitenschüsseln, vor allem auf Privathäusern. Auch sie werden vom Zug aus nur kurz fixiert und verschwinden mit derselben Unausweichlichkeit aus dem Blickfeld. Vor allem aber sehen wir Graffitis, Sprühzeichnungen zwischen Text und Bild, für deren Entzifferung keine Zeit bleibt. Sie sind sowieso meist unlesbar, gelegentlich erkennt man rätselhafte Buchstabenkombinationen, Namen vielleicht oder eigenwillige Akronyme.

Anfang und Ende des Bandes scheinen arbiträr gewählt; nach einigen Eröffnungsschnitten mit vorbeifliegenden Felsabbrüchen beginnt die Folge der eiligen Schwenks. Ohne offensichtliche Dramaturgie oder Logik, allerdings mit einem feinen Sinn für den Rhythmus und die Dynamik der Sequenzen, bricht das Band nach etwa 8 Minuten ab. Dieser Moment ist vom Ende der Tonspur bestimmt, die die Bilder begleitet: die künstliche Stimme eines Text-zu-Sprache-Computerprogramms trägt Auszüge aus einem englischsprachigen Thesaurus vor, und zwar zum Wortfeld Kreativität ("Formation of ideas, imagination, inspiration, originality, fantasy, ..."). Intentions- und emotionslos verdoppelt dieser gesprochene Text, dem übrigens auch der Titel mind's eye entnommen ist, den gleichgültigen Rhythmus der Bilder und reflektiert zugleich auf die idiosynkratischen Ausdrucksformen, in denen sich die Graffiti verdichten.

3. Die Haut der Stadt

Graffiti gehören zu den auffälligsten Elementen im Bild der post-industriellen Stadt. Mitte der 70er Jahre beschreibt Jean Baudrillard in einem Aufsatz das damals junge Phänomen als strategische Intervention in die urbane Struktur ("Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen", 1975) und liefert interessante Hinweise für die Interpretation der Videoarbeit von Oliver Whitehead. Die Stadt ist, so Baudrillard, nicht länger bestimmt von einer Zeichenmatrix der Arbeit und des Handels. Stattdessen ist sie fast ausschließlich codiert mit den Zeichen des Konsums, die vornehmlich von den Bild- und Textmaschinen der Medien produziert werden, die aber auch in die Architektur und urbanistischen Anlagen der Städte eingeschrieben sind.

Anders als die politischen und poetischen Wandlosungen der 50er und 60er Jahre setzen Graffiti hiergegen nicht die Passion des ausdrücklichen Widerstands, sondern leere Signifikanten, die sich der Lesbarkeit und Deutbarkeit bewusst entziehen. Es geht um die Einschreibung in eine bedeutungsneutrale, suburbane Landschaft und um die Besetzung nicht-signifikanter Oberflächen der Stadt mit Zeichen, die den decodierten urbanen Raum als kollektives Territorium bestimmen (Baudrillard). Wo normalerweise eine vollständige Neutralisierung des Sichtbaren stattfindet - eben an jenen Rückseiten der Stadt, durch die die Strecken der Vorortzüge geschnitten sind -, wird der Stadt ein Körper gegeben und ihre neutrale Flächen zu erogenisierten Zonen umgewandelt. Die Graffiti in Oliver Whiteheads Video sind für diejenigen Leute gemacht, die im Zug vorbeifahren, die also den öffentlichen Nahverkehr nutzen statt des automobilen Individualverkehrs. Mit dieser Kollektivität des Fahrens ist unmittelbar die Kollektivität der Zeichenwahrnehmung verbunden. "Indem sie die Wände tätowieren, befreien SUPERSEX und SUPERCOOL sie von der Architektur und machen sie wieder zu einer lebendigen, immer noch sozialen Materie, zum beweglichen Körper der Stadt vor seiner funktionalen und institutionellen Markierung." (Baudrillard)

4. Wovon auch Baudrillard 1975 noch nichts wußte

Whitehead weicht vom Prinzip semiotischer Redundanz nur an einer Stelle ab. In der Mitte des Bandes sind mehrere Graffiti zu sehen, die deutlich als "Virus" und "HIV" zu lesen sind. Kaum ein Zufall, ist diese kurze Serie jedoch nicht eindeutig zu interpretieren. Hinweis auf ein schwarzes Loch in der Haut der Stadt? HIV als ein irreduzibles Zeichen, das sich gegen das postmoderne Treiben der Bedeutungen sträubt? Assoziation des Graffiti-Sprühens mit einer viralen Tätigkeit, die im Sinne von Burroughs "language is a virus" in den Körper der Stadt eindringt und sein Immunsystem schwächt?

5. Dérive des Auges

Das Gegenbild zu den a-signifikanten Graffiti sind im Video die Antennen und Satellitenschüsseln, die den körperlosen und individualisierten Empfang medialisierter Konsumbotschaften ermöglichen. Zwischen beiden Zeichensystemen, zwischen Graffiti und Antennen, entspinnt sich das Gewirr der Wege, auf denen Menschen allein und gemeinsam durch die Stadt streifen, zu Fuß und in Zügen. Diese Semiotik der Stadt ist bestimmt von unsichtbaren Zeichnern, schattenhaften Medienkonsumenten und anonymen Pendlern.

Auffälligerweise ist die Stadt in mind's eye eine Stadt ohne Autos, eine Stadt der Fußgänger und Bahnfahrer. Sie erinnert an die utopische Stadt des Situationismus, deren Psychogeografie mit Hilfe von nicht-funktionalen, nicht-signifikanten Markierungen im Umherschweifen erfahren und kartografiert wird. Das Dérive (Umherschweifen) von Whiteheads Kamera ist freilich nicht dem Zufall oder der Intuition des situationistischen Urbanisten überlassen, sondern ist der unausweichlichen Bewegung des Zuges unterworfen. So ist die Ökonomie von Raum und Begehren hier auch weit weniger romantisch bestimmt als die der Situationisten, sondern sie weiß sich in direkter Abhängigkeit von der technischen Logik der Fortbewegung.

6. Schule des unaufmerksamen Blicks

Am Anfang seines Buches zur Landschaftswahrnehmung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, The Spectacle of Nature (1990), beschreibt der englische Kulturwissenschaftler Nicholas Green den Blick aus dem Fenster eines Zuges und nimmt dies als Ausgangssituation für eine Reflexion über die Konstruiertheit des modernen Naturbildes. Im gleichen Duktus läßt sich an mind's eye über den puren Realismus der Darstellung hinaus ablesen, wie die Darstellung und ihre Technologien zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit beitragen; hier also: wie die Videoarbeit ein Bild der "urbanen Bedingung" entwirft, die das ziellose Durchkreuzen der Vorstädte im Zug mit dem schweifenden Blick verbindet, der die neue Semiotik der Stadt "scannt", oder einliest, und mit einem ironischen, maschinisierten Vortrag über kreatives Handeln konterkariert. Das grobkörnige Videobild und die verfremdete Stimme des Computers schaffen dabei eine Distanz zum Dargestellten, als betrachte man aus der Perspektive einer außerirdischen Maschine die Archäologie der menschlichen Kreativität am Ende des 20. Janhrhunderts.

Was aussieht wie die Aneinanderreihung leerer Blicke in ein sinnlos vorübertreibendes Wirklichkeitskino - wir sind unweigerlich erinnert an den Klassiker des Ambient TV, die Reihe "Deutschlands schönste Bahnstrecken", in der eine festinstallierte Kamera an der Lokomotive eines Zuges über Stunden den Blick in die vorbeiziehende Landschaft zeigt -, ist die sehr bewußte Inszenierung einer Wahrnehmung, die den Blick für die Zeichen einer unauffälligen Urbanität im Takt ihres Auftauchens und Verschwindens schult.

Für Nick Green, einen weiteren Pendler.

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